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Dysreguliertes Nervensystem: Wenn das vegetative Nervensystem verrückt spielt

  • Autorenbild: Larissa Kubon
    Larissa Kubon
  • 11. Nov.
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 21. Nov.

Reizüberflutung, innere Unruhe, ständige Alarmbereitschaft – wenn das Nervensystem aus dem Takt geraten ist, fühlt sich der Alltag schnell wie ein ständiger Überlebensmodus an. In diesem Artikel erfährst du, woran du ein dysreguliertes Nervensystem erkennst, welche Ursachen dabei eine Rolle spielen und was du tun kannst, um dein Nervensystem zu beruhigen.


Fix erklärt


  • Das Nervensystem steuert, wie wir fühlen, denken, handeln – und wie wir uns erholen.

  • Sympathikus und Parasympathikus regeln wie in einer Wippe unser inneres Gleichgewicht.

  • Ein dysreguliertes Nervensystem ist dauerhaft in Alarmbereitschaft. 

  • Mögliche Anzeichen: Schlafprobleme, Reizbarkeit, Gedankenkreisen, Verdauungsstörungen.

  • Häufige Ursachen: Chronischer Stress, Reizüberflutung, Trauma, ungünstiger Lebensstil.

  • Einfache Techniken wie Atemübungen oder Vagusnerv-Stimulation helfen akut.

  • Langfristig wichtig: Stress im Innen und im Außen reduzieren.


Inhaltsverzeichnis




Was ist das Nervensystem?


Das Nervensystem ist das zentrale Kommunikationsnetzwerk des Körpers. Es verarbeitet Reize, koordiniert körperliche Abläufe und sorgt dafür, dass wir schnell und angemessen auf innere und äußere Anforderungen reagieren können. Zentral für unsere Stressantwort ist dabei das Gleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus.


Unser Nervensystem durchzieht den gesamten Körper wie ein fein verzweigtes Netz. Es ist ständig damit beschäftigt, Informationen von innen und außen zu empfangen, zu verarbeiten und weiterzuleiten. Es steuert, wie wir fühlen, denken, handeln, aber auch, wie wir uns erholen, verdauen oder schlafen.


Für die Balance von Anspannung und Entspannung spielt insbesondere das vegetative Nervensystem (auch autonomes Nervensystem genannt) eine wichtige Rolle. Es reguliert all jene Vorgänge, die weitgehend unbewusst ablaufen, wie Atmung, Herzschlag oder Verdauung. 


Entscheidend für das innere Gleichgewicht ist das Zusammenspiel seiner beiden Hauptakteure:


  • Der Sympathikus (auch sympathisches Nervensystem genannt) versetzt den Körper bei Gefahr oder in Stresssituationen in Alarmbereitschaft, aktiviert und mobilisiert. Wenn er dominiert, beschleunigen sich Atmung und Herzschlag, die Muskulatur spannt sich an, die Sinne werden geschärft – unsere körperliche Leistungsfähigkeit steigt. Funktionen, die kurzfristig nicht überlebenswichtig sind, wie Verdauung und Fortpflanzung, werden heruntergefahren. Stattdessen wird die ganze verfügbare Energie den Organen zugeteilt, die das akute Überleben sichern. Viele kennen diese Stressantwort als Fight-or-Flight-Reaktion.


  • Der Parasympathikus (auch parasympathisches Nervensystem genannt) wirkt als Gegenspieler. Er bringt das System in den Ruhemodus, vertieft die Atmung, entspannt die Muskulatur. Die Parasympathikus-Aktivität fördert Erholung und Regeneration wie auch Verdauung: „Rest and Digest“.


Du kannst dir das Zusammenspiel der beiden wie eine Wippe vorstellen: Mal dominiert der eine, mal der andere – idealerweise in einem flexiblen, fein abgestimmten Wechselspiel.


Wichtig: Der Sympathikus ist nicht „der Böse“ – er ist überlebensnotwendig. Ohne ihn könnten wir auf akute Bedrohungen gar nicht angemessen reagieren. Genauso wichtig ist jedoch die Fähigkeit, nach einer Herausforderung wieder in den Ruhemodus schalten zu können und zu regenerieren. Problematisch wird es erst, wenn der Sympathikus überaktiv bleibt und der Parasympathikus dauerhaft geschwächt wird, etwa durch chronischen Stress oder emotionale Belastung. 


Dann bleiben Körper und Psyche in einem Zustand erhöhter Alarmbereitschaft, selbst wenn keine reale Bedrohung besteht. Doch für diese Daueraktivierung ist unser System nicht gemacht. 


Ein überreiztes Nervensystem kann sich auf verschiedenen Ebenen auswirken: von Schlafstörungen über emotionale Dünnhäutigkeit bis hin zu Verdauungsproblemen oder hormoneller Dysregulation. 


Ein ausbalanciertes Nervensystem ist also mehr als nur ein „Stressregler“: Es ist die Grundlage für körperliche Gesundheit, psychische Stabilität und ein spürbares Gefühl von innerer Sicherheit.




Anzeichen eines dysregulierten Nervensystems


Ein dysreguliertes Nervensystem befindet sich dauerhaft im Ungleichgewicht: Es reagiert übermäßig stark auf Reize oder bleibt in einem anhaltenden Alarmzustand. Die Fähigkeit zur Regulation zwischen Anspannung und Entspannung ist gestört.


Ein dysreguliertes Nervensystem bedeutet, dass das feine Zusammenspiel zwischen Sympathikus und Parasympathikus gestört ist. Die innere Wippe ist dauerhaft gekippt, meist in Richtung eines überaktiven Sympathikus. Das System bleibt dauerhaft auf Empfang – wie ein überempfindlicher Sensor, der selbst harmlose Reize als mögliche Bedrohung einstuft.


Viele Anzeichen eines überreizten Nervensystems äußern sich subtil und werden lange kompensiert. Deshalb wirken viele Betroffene nach außen leistungsfähig und „funktionieren“. 


Doch die Fehlregulation des Nervensystems kann sich auf verschiedenen Ebenen zeigen:



Körperliche Anzeichen


  • Ein- oder Durchschlafprobleme, mangelhafte Schlafqualität 

  • Muskelverspannungen (v. a. Nacken, Kiefer, Rücken)

  • Flache Atmung (meist Brustatmung)

  • Erhöhter Puls oder spürbares Herzklopfen

  • Schreckhaftigkeit

  • Überempfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen oder Berührung 

  • Verdauungsbeschwerden, z. B. Reizdarm, Blähungen, Verstopfung 

  • Heißhunger oder wechselhafter Appetit

  • Schnelle Erschöpfung trotz ausreichend Schlaf

  • Hormonelle Störungen, z. B. Libidoverlust, Zyklusunregelmäßigkeiten, PMS



Emotionale Anzeichen


  • Gefühl, nie richtig abschalten zu können

  • Schwierigkeiten, sich zu entspannen oder Ruhe auszuhalten

  • Innere Unruhe, Rastlosigkeit

  • Schnelle Überforderung bei kleineren Anforderungen

  • Latente Nervosität oder Anxiety

  • Reizbarkeit oder emotionale Dünnhäutigkeit

  • Stimmungsschwankungen

  • Emotionale Erschöpfung

  • Geringe Frustrationstoleranz

  • Starkes Bedürfnis nach Kontrolle



Kognitive Anzeichen


  • Grübeln oder Gedankenkreisen, besonders abends

  • Überanalysieren und „Overthinking“ 

  • „Katastrophen-Denken“ (Worst Case Denken)

  • Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen

  • Konzentrationsschwierigkeiten, leichte Ablenkbarkeit

  • Vergesslichkeit

  • Brain fog (Gehirnnebel)

  • Gefühl, in Stresssituationen nicht klar denken zu können

  • Mentale Überforderung bei vielen Reizen oder Informationen

  • Gefühl, neben sich zu stehen





Ursachen für ein dysreguliertes Nervensystem


Ein dysreguliertes Nervensystem entsteht meist durch eine Daueraktivierung des Stresssystems – ausgelöst durch langanhaltende emotionale Belastung, chronischen Stress, Reizüberflutung im Alltag oder körperliche Belastungen. Auch traumatische Erlebnisse können dazu führen, dass der Sympathikus überaktiv bleibt.


Die Gründe, warum ein Nervensystem aus dem Gleichgewicht gerät, sind vielschichtig. Nur selten lässt sich der Zustand auf ein einzelnes Ereignis zurückführen. Meist handelt es sich um einen schleichenden Prozess, bei dem das Stresssystem über längere Zeit immer wieder aktiviert wird und sich nicht ausreichend erholen kann.


Diese Daueraktivierung führt dazu, dass die innere Flexibilität verloren geht: Der Sympathikus bleibt aktiv, der Parasympathikus kommt kaum noch zum Zug. 


Besonders häufige Ursachen für ein dysreguliertes Nervensystem sind:



Chronischer Stress


Dauerstress hat viele Gesichter. Nicht nur Zeitdruck oder eine immer länger werdende To-do-Liste belasten. Auch emotionale Belastungen wie Mobbing, Geldsorgen oder die Pflege eines Angehörigen setzen das Nervensystem dauerhaft unter Spannung. Und selbst, wenn im Außen alles ruhig ist, können innere „Programme“ wie Perfektionismus oder ein starker Innerer Kritiker das Stresssystem auf Trab halten.



Trauma


Traumatische Erlebnisse wie Unfälle, Gewalterfahrungen oder der plötzliche Verlust eines geliebten Menschen können die normalen Verarbeitungsmechanismen des Gehirns überfordern. Das Nervensystem bleibt dann oft in einem Zustand der Übererregung – selbst wenn objektiv keine Gefahr mehr besteht. Diese andauernde Übererregung führt dazu, dass das innere Sicherheitsgefühl der Betroffenen fehlt, auch wenn sie äußerlich wieder in Sicherheit sind. 


Wenn dieser Zustand über die akute Schockreaktion hinaus anhält, kann das Nervensystem sich nicht mehr gut selbst regulieren. In solchen Fällen ist es sinnvoll, sich professionelle Unterstützung zu holen, um das Erlebte schrittweise zu verarbeiten und dem Nervensystem zu helfen, wieder in die Ruhe zu finden.



Unverarbeitete belastende Erfahrungen


Nicht nur akute Traumata, sondern auch wiederholte Belastungen – etwa durch emotionale Vernachlässigung oder fehlende Bindungssicherheit in der Kindheit – können langfristig zur Dysregulation führen. Besonders prägend wirken solche Erfahrungen, wenn sie sehr früh im Leben auftreten: Das Nervensystem „lernt“ dann, ständig wachsam zu sein, und die Stressresilienz sinkt.



Reizüberflutung


Unser Nervensystem ist evolutionär für ein deutlich ruhigeres Leben gemacht – eines mit wenigen Reizen und kurzen Stressphasen mit langen Ruhephasen dazwischen. Heute leben wir in einer Welt, die nicht mehr zu diesem genetischen Bauplan passt: endlose digitale Informationen, ständige Erreichbarkeit, Verkehrslärm, künstliches Licht. Unser Gehirn hat viel damit zu tun, all diese Reize zu verarbeiten. 

Hinzu kommen Umweltbelastungen wie Luftverschmutzung, Pestizide in Lebensmitteln oder hormonaktive Substanzen in Kosmetikprodukten. 

Wenn regelmäßige Ruhepausen ohne neuen Reizinput fehlen, kommt das Nervensystem kaum noch zur Ruhe.



Ungünstiger Lebensstil


Unser Lebensstil wirkt direkt auf das Nervensystem. Schlafmangel, übermäßiger Koffeinkonsum oder das Fehlen von Erholungsphasen erhöhen die Ausschüttung von Stresshormonen und halten den Sympathikus überaktiv. Ein Alltag mit dauerhaft fünf Stunden Schlaf und mehreren Tassen Kaffee am Tag bringt das System langfristig aus dem Gleichgewicht.


Evolutionär ist Stress auf Bewegung ausgerichtet: Die sogenannte Fight-or-Flight-Reaktion mobilisiert den Körper – für Kampf oder Flucht. Doch statt körperlicher Aktivität sitzen wir heute oft stundenlang am Schreibtisch und abends erschöpft vor dem Bildschirm. Die aktivierte Energie bleibt im System und verstärkt die Dysbalance des Nervensystems.


Auch die Ernährung spielt eine Rolle: Eine entzündungsfördernde Ernährung sowie ein Mangel an wichtigen Mikronährstoffen können die Regulation des Nervensystems zusätzlich beeinträchtigen.


Die gute Nachricht: Ein gesunder Lebensstil mit ausreichend Schlaf, regelmäßiger Bewegung und nährstoffreicher Kost stärkt die Resilienz des Nervensystems – also seine Fähigkeit, flexibel auf Belastungen zu reagieren.



Körperliche Belastungen


Auch körperliche Faktoren können das Nervensystem aus dem Gleichgewicht bringen. Chronische Erkrankungen, wiederkehrende Infekte, stille Entzündungen oder ausgeprägte Blutzuckerschwankungen wirken wie permanente unterschwellige Stressoren. Sie aktivieren von innen das Stresssystem, erhöhen die Ausschüttung von Stresshormonen und halten das Nervensystem so dauerhaft in Alarmbereitschaft. 



Wichtig zu verstehen ist: Ein dysreguliertes Nervensystem ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eine logische Schutzreaktion des Körpers auf anhaltende Überforderung. Mit dem richtigen Verständnis und gezielten Impulsen lässt sich dieser Zustand wieder regulieren.




Wie kann man das Nervensystem wieder ins Gleichgewicht bringen?


Ein dysreguliertes Nervensystem lässt sich beruhigen: durch gezielte Impulse im Alltag und ein besseres Verständnis der zugrunde liegenden Ursachen. Der Schlüssel liegt in einer Kombination aus akuter Beruhigung und langfristiger Entlastung.



Akute Strategien: Das Nervensystem sofort beruhigen


Wenn das Nervensystem überreizt ist und der Sympathikus überaktiv, helfen gezielte Impulse, um das System kurzfristig zu entlasten. Schon einfache Techniken können einen Unterschied machen, wenn sie regelmäßig angewendet werden:


  • Langsame, tiefe Bauchatmung: Die Ausatmung sollte dabei länger sein als die Einatmung – das aktiviert den Parasympathikus. Du kannst deinen eigenen Rhythmus finden oder gezielte Techniken wie die 4-7-8-Atmung nutzen: 4 Sekunden einatmen, 7 Sekunden halten, 8 Sekunden ausatmen.

  • Vagusnerv stimulieren: Der wichtigste Nerv des Parasympathikus lässt sich u.a. durch Singen, Summen, sanfte Schaukelbewegungen oder kurze Kältereize aktivieren.

  • Achtsamkeit üben: Nimm dir einen Moment, um dich und deine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Wie fühlt sich dein Körper gerade an? Was für Geräusche hörst du um dich herum? Kannst du Gerüche wahrnehmen? Was spürst du auf der Haut? Wichtig dabei: Nur wahrnehmen, nicht bewerten.


Diese Techniken wirken oft schon nach wenigen Minuten. Sie helfen, akute Anspannung zu reduzieren oder abends besser einzuschlafen. 


Für weitere praktische Tipps und Übungen schau dir auch den Artikel Nervensystem beruhigen an.



Langfristige Strategien: Ursachen regulieren


Auf Dauer geht es darum, die Dysbalance des Nervensystems nicht nur kurzfristig zu lindern, sondern auch an den Ursachen anzusetzen. Das bedeutet, deinen Alltag insgesamt nervensystemfreundlich zu gestalten:


  • Übe dich in Selbstfürsorge und sei freundlich mit dir selbst.

  • Mache bewusste Pausen zur Routine: Schaffe dir immer wieder kurze Momente mit möglichst wenig Reizen – ganz ohne Smartphone und Podcast nebenbei.  

  • Gestalte deinen Alltag bewusster und „langsamer“. Überlege mal, an welchen Stellen du etwas Tempo rausnehmen und Überreizung reduzieren kannst. Beobachte auch, welche Aktivitäten dir wirklich gut tun – und womit du nur aus Gewohnheit deine Zeit verbringst. 

  • Priorisiere Schlaf und gestalte deine Ernährung und Bewegung bewusst.



Aber: Du musst nicht alles auf einmal verändern. Schon kleine Momente der Entspannung können deinem Nervensystem signalisieren: Du bist sicher. Und genau das ist der erste Impuls, der deine innere Wippe Schritt für Schritt wieder ins Gleichgewicht bringt.



Fazit


Ein dysreguliertes Nervensystem ist kein Versagen, sondern eine natürliche Reaktion auf anhaltende Belastung. Es zeigt, dass dein Körper versucht, dich zu schützen – auch wenn es sich für dich anders anfühlt.


Die gute Nachricht: Unser Nervensystem ist anpassungsfähig. Mit dem richtigen Wissen, einem feineren Gespür für die eigenen Bedürfnisse und kleinen, regelmäßigen Impulsen kann es zurück ins gesunde Gleichgewicht finden.



Larissa Kubon, Psychologin (M.Sc.) & Therapeutin für Klinische Psychoneuroimmunologie:

Meine Mission ist es, Menschen mit psychischen Belastungen zu zeigen, wie sie ihre mentale Gesundheit selbst in die Hand nehmen können. Deshalb verbinde ich Psychologie mit Körperwissen, um sichtbar zu machen, wie Körper, Geist und Lebensstil zusammenspielen – und ganzheitliche Wege zu einer stabilen Psyche zu zeigen.

 
 
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